Immer noch das alte Leid mit Schönheit, Kindern, Blut und Tränen
Manische Skribenten, Collage 1969

103 I Ausstellung vom 13. Juli bis 23. September 2022

»Zum Einhundertzwanzigsten« |

Woldemar Winkler (1902 – 2004)

Das Werk von Woldemar Winkler (1902-2004) ist das eines Einzelgängers in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts. Es widersteht allen kunsthistorischen Versuchen, es in vorhandene stilistische Schubladen zu pressen, ja sogar eine zeitliche Einteilung in Perioden und Werkabschnitte erweist sich als schwierig und wenig ertragreich für das Verständnis. Von den frühesten erhaltenen Zeichnungen aus den zwanziger Jahren bis zu den letzten malerischen und plastischen Werken des Künstlers, entfaltet sich ein in sich stimmiges und von Beginn an in seinen Grundzügen bereits entwickeltes Schaffen, ohne grundlegende Brüche aufzuweisen. Die Zurückgezogenheit, in der Woldemar Winkler über Jahrzehnte sein Lebenswerk entwickelte, umgibt dieses mit einer Aura der Zeitlosigkeit. Sein künstlerisches Schaffen tendiert zum Gesamtkunstwerk, in dem sich alles zur Kunst verwandeln kann und in dem die Grenzen zwischen den Kunstgattungen aufgebrochen und überschritten werden. In Frankreich erfuhr sein Werk erstmals Wertschätzung.

Vor allem die engagierte Unterstützung der Galerie Alphonse Cave in Vence, spielte in den 1960er Jahren die Rolle eines Katalysators, um Winklers Schaffen aus der selbstauferlegten Abgeschiedenheit an die Öffentlichkeit zu holen. Frankreich, später auch Spanien, wo Winkler eine Mühle unweit Malagas zum Atelier umbaute, Gütersloh, sein westfälisches Refugium, und allen voran die sächsische Heimat Dresden bilden die topografischen Koordinaten. Dresden, vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das Florenz des Nordens genannt, bildet den Bezugspunkt. Das Studium an der Dresdner Kunstgewerbeakademie bei Carl Rade in den zwanziger Jahren hat Winkler tief beeinflußt und seine Talente zur Entfaltung gebracht. Die 1930er Jahre, die Machtergreifung der Nationalsozialisten, konnte er als Lehrer der privaten „Akademie für Zeichnen und Malen des Hofrats Simonson-Castelli“ überstehen. Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft und die Rückkehr in eine zerstörte Heimat, in der durch den Brand seines Dresdner Ateliers kaum noch Zeugnisse seiner frühen künstlerischen Entwicklung vorhanden waren, bilden einen tiefen Bruch im Lebensweg eines Künstlers, den viele Weggenossen dieser „verschollenen Generation“ mit Winkler teilen mussten.

Er ließ sich 1949 in Gütersloh nieder und versuchte künstlerisch erneut Fuß zu fassen. Ein Wiederanknüpfen in Dresden erschien nach dem Krieg möglich, doch die sich abzeichnenden Zwänge der sozialistischen Kunstdoktrin hielten den mittlerweile in Gütersloh ansässigen Künstler davon ab, die angebotene Professur in seiner Heimatstadt anzunehmen. Der Wechsel vom lebendigen Vorkriegsdresden ins dörfliche Niehorst bei Gütersloh, wo Winkler abgeschieden in einem Waldstück seit 1950 ein Haus bewohnte, ist vollständiger kaum denkbar. In Deutschland vollzieht sich Winklers späte Anerkennung im Rahmen der Neubewertung surrealistischer oder phantastischer Kunst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre.

Karin Weber